Audio Research VS55

Der VS55 ist ein Gegentakter mit 6550-Röhren die im Pentodenmodus arbeiten. Er stellt quasi die Endstufevariante des „Vollverstärkers“ VSi55 dar. Zur „sauberen“ Vollaussteuerung will der VS55 mit 1,1V RMS (?) „gefüttert“ werden. „Saubere“ Vollaussteuerung heisst: satte 50W. Laut Prospekt. Und laut Prospekt soll er da immer noch 20Hz bis 20kHz (-3dB) übertragen können. Soso. Das Alter dieses Verstärkers liegt übrigens bei etwa 20 Jahren.

Überhaupt die Prospektdaten: Wühlt man sich aufmerksam durch die aufgeführten Eigenschaften, dann soll der Verstärker nämlich noch mehr Watt schaffen. Beiläufig wird nämlich erwähnt, dass der VS55 bei 52W „clippt“. Das ist genauso „ungewöhnlich“, wie auch auf den hohen Energiespeicher hingewiesen wird. Laut Prospekt werden hier 166 Joule ausgerufen. Für einen Stereo-Gegentakter mit gemeinsamen Netzteil also fast 1.900µF, die sich aus vier 470µF parallel geschalteten Elkos zusammensetzen. Nur für einen Stereo 50W Röhrenverstärker! Ganz dolles Ding.

Wer oder was Audio Research ist, sollte bekannt sein. Eben eine amerikanische Verstärkerschmiede… Und mit Ami-Amps habe ich bereits so die eine oder andere oder auch jene Erfahrung… Und, wie üblich, lauerte auch hier noch eine kleine Überraschung…

Warnung vorweg: Es muss leider etwas technisch werden. Trotzdem habe ich versucht, dass auch für Laien einigermaßen verständlich zu halten.

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VS55 im Groben

Auf der Werkbank steht nun so ein VS55. So rein vom optischen sieht er nach alles aus, nur nicht nach einem (hochpreisigen) Produkt aus einer bekannten Audioschmiede. Warum steht der gebrauchte VS55 nun auf der Werkbank? Lassen wir den Begleitbrief sprechen, denn dort steht sinngemäß:

Der Verstärker hört sich so miserabel an, dass das wohl kaum so ab Werk sein kann. Vermutlich ist da etwas defekt. Auch kommt der Verstärker überhaupt nicht in die Pötte. Was kann man tun? Hand anlegen nur nach Rücksprache.

Schaltplan organisiert. Geht sogar recht fix. Bereits beim ersten „Drüberherschauen“ fragte ich mich, ob Audio Research einen da ver…natzen wollte. Die Sache mit den (bewusst „eingebauten“) kleinen Fehlerchen in den Schaltplänen war und ist ja nicht so unüblich… Das können die doch unmöglich so gebaut haben. Und wenn doch ist klar, warum der VS55 a) so nicht klingt und b) warum er „nicht in die Pötte“ kommen will. Stichwörter: Gegenkopplung und das Filter zur Tiefton-Anhebung.

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Na dann hören wir mal ’rein. Mit angeschlossenen Messgeräten (man weiss ja nie) eine etwa 10 Sekunden dauernde akustischen Verprobung durchgeführt. Die Klangbeschreibung „miserabel“ war – nach meinem Dafürhalten – ja noch wohlwollend formuliert. Ein mit Steroide aufgepumpter Tieftonbrei liess kaum Raum für die Höhen und schon gar nicht für die Mitten. Die waren schlichtweg gar nicht da – abgesoffen im Tiefton-Morast. Weil nun ein Messgerät anfing „komische“ Werte anzuzeigen und die Endröhren eine aussergewöhnliche Wärme entwickelten, schnell wieder ausgeschaltet…

Das mit dem aufgepumpten Tiefton steht sogar im Prospekt. „Bass extension“, also „Basserweiterung“, nannte man das bei Audio Research. Aha. Ein gaaanz alter Hut übrigens, den schon der olle Williamson kannte. Nix gegen eine solche Trickserei – ist manchmal halt nötig. Aber dann bitteschön in homöopatischer Dosierung… So, dass der Tiefton lediglich sanft unterstrichen wird, dabei aber die Mitten und Höhen nicht anrührt.

Spasseshalber habe ich mir mal andere Schaltbilder von Audio Research angesehen. So eine „Basserweiterung“ findet sich bei allen Leistungsverstärkern. Recht kräftig zwar, aber nicht so toxisch wie beim VS55.

Die Schaltung…

… ist bis auf zwei Details wirklich nichts Besonderes. Je Kanal eine halbe 6N1P-Triode, die die nötige Vorverstärkung vornimmt. Gleichspannungsmäßig ist der übliche Phase-Splitter (Long Tail Pair) – ebenfalls mit 6N1P – angekoppelt. Die erste Besonderheit hier ist die Konstantstromquelle mit einem Transistor (FET), statt dem üblichen Widerstand. War mal ganz modern. Sieht man heute – oh Wunder – aber kaum noch…

Danach geht’s wie üblich schon zu den Endröhren (6550). Wobei sich hier die zweite Besonderheit findet: Die Kathoden sind direkt mit dem Lautsprecherausgang gekoppelt. Und genau das macht einen Verstärker von Audio Research aus (US-Patent 3.566.236 „Amplifier output stage coupling“).

Unter anderem. Eine weitere typische Marotte, war/ist der Stabilisierungs-Wahn mit Halbleiter. Motto: „Warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht…?“

Das Netzteil ist nämlich gespickt mit Transistoren (FETs). Wobei das „elektronische Netzteil“ nur die Spannungsversorgung der 6N1P-Röhren übernimmt. Prinzipiell wird die gleichgerichtete Spannung nur von 420V (!) auf 360V (350V) herunter geregelt. Jeder normal-sterbliche Lötkolben-Jongleur hätte das mit einem Widerstand und evtl. Zenderdioden (ja, ist 08/15, aber bewährt) erledigt. Mit den (ungeregelten) 420V werden dagegen nur die Endröhren gefüttert…

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Zu der einfachen 08/15-Lösung wird man im Falle eines Defektes ja eh‘ greifen. Warum? Weil Audio Research die Typen-Bezeichungen auf den Transistoren sorgfältig unkenntlich gemacht und durch einen Farbcode ersetzt hatte. Das hiesse im Falle eines Falles: Entweder Ersatz beim Distributor oder bei Audio Research für (vermutlich) arschteueres Geld ordern – oder mit der 08/15-Lösung leben lernen und Geld sparen.

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Und, jede Wette, dass diese Transistoren ganz normale Standardware sind – sofern noch verfügbar und nicht schon vor Jahren abgekündigt. Dass die – ausgerechnet für diesen Anwendungsfall – selektiert sein sollen (wie in einem Diskussionsforum gemutmaßt), kann ich mir nicht vorstellen. Auch das übrigens eine Marotte von Audio Research…

Ja, die Qualität eines Verstärkers steht und fällt mit der Stabilität der Vorstufenspannung, aber so etwas ist weit über’s Ziel hinausgeschossen. Wirklich.

frihu

…hört gerne Musik. Über Röhrenverstärker. Musikrichtung egal. Ausser Jazz, Hip-Hop, House, Metal, Trash, Schlager, Volksmusik, Gangsta-Rap (noch schlimmer, wenn in Deutsch gebrüllt). Da krieg' ich ein Hörnchen. Autor der Bücher: Hören mit Röhren, Röhrenschaltungen und High-End Röhrenschaltungen. Artikel in hifi-tunes (Röhrenbuch 2): Bauteileauswahl für Röhrenverstärker und EL509 Single-Ended Röhrenverstärker im Selbstbau

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