Ein Phänomen aus der Hölle

So. Endlich wieder was zum Thema Röhrentechnik. Ist zwar etwas kurios, das Ganze (deswegen steht’s ja in dieser Rubrik), aber eben Röhrentechnik. Die Überschrift dürfen Sie übrigens wörtlich nehmen, denn das „Phänomen“ hat mich wirklich arg beschäftigt. Eigentlich dürfte das auch gar nicht vorkommen. Eigentlich – aber nun gut. Zur Sache…

Gegeben sei ein Gegentakter mit Pentoden (Tetroden) als Endröhren, der hier zwecks Revision aufschlug. Klassische (im wahrsten Sinne des Wortes) Röhrentechnik mit einstellbaren Ruheströmen für jede Endröhre. Dieser Gegentakter ist/war zudem kein Unbekannter. Vom Besitzer schon mit Röhren neueren Datums bestückt, verrichtete der Verstärker so jahrelang – tagaus, tagein – seinen Dienst.

Jetzt zickte er gewaltig herum, der Verstärker. Also ab in die Werkstatt, da sowieso neue Endröhren fällig waren. Kein Wunder, wenn der Röhrenverstärker fast täglich unter Dampf stand. Im Zuge der Revision mussten alle alten Widerstände und Koppelkondensatoren ersetzt werden. Soweit, so gut. Nix neues bei diesem Verstärker. Und jetzt ging das Spektakel los.

Gibt’s nicht? Gibt’s doch!

Röhrenstufe für Röhrenstufe den Verstärker in Betrieb genommen und eingehend getestet. Zeit für die Endröhren. Gesteckt, eingeschaltet, etwas gewartet und dann das BIAS nach allen Regeln der Kunst zunächst auf etwa 50% der empfohlenen Einstelllung hochgedreht. Zum minutenlangen Warmlaufen, quasi. Sollte sich bereits jetzt eine Röhre zickig verhalten, braucht man gar nicht mehr weiterzumachen.

Nun sind diese Endröhren ja auch nicht unbedingt als „Zicken“ bekannt, aber irgendetwas kann ja immer passieren. Deshalb habe ich es mir so angewöhnt.

Nach gut zehn Minuten standen die eingestellten Ruheströme wie eine Eins. Ein gutes Zeichen. BIAS auf Soll eingestellt. Auch das geschah völlig ohne Probleme. Na dann geben wir mal ein Sinussignal drauf und schauen uns das Sinus mal am Oszilloskop an. Gesagt – Getan.

Was zur Hölle…?

Rechter Kanal einwandfrei. Linker Kanal eine Katastrophe hoch Zehn. Vom Sinus war – gelinde ausgedrückt – nicht viel zu erkennen. Also fast nichts. Fast schon Null-Linie. Schockstarre! Und deshalb nicht in der Lage ein (verwackeltes) Photo zu schiessen. So etwas habe ich noch nicht gehabt. Klarer Fall: Beide Endröhren im Ar… Beide?

Naja, das kann so nicht sagen, denn wenn nur eine Röhre vom Paar einen Schlag hat, spielt die andere Röhre – aus Solidarität – auch verrückt. Im schlimmsten Fall ist sogar das Röhrenpaar des anderen Kanals davon betroffen, wenn (Achtung!) die negative Vorspannung aus einem gemeinsamen Netzteil gewonnen wird. Und das ist bei Stereoverstärkern die Regel.

Um ganz sicher zu gehen, werden die Plätze getauscht. Zuvor den BIAS wieder komplett heruntergeregelt. Die Röhren vom rechten sitzen nun im linken Kanal und umgekehrt. BIAS wieder hochgedreht. Blick zum Oszilloskop – der Fehler ist mitgewandert. Also sind’s die Röhren – zumindest eine davon.

Da muss ein Verdrahtungsfehler vorliegen. Klar, was denn auch sonst. War aber ein Satz mit X. Kein Verdrahtungsfehler.

Also nehme ich Endröhren aus meinem Bestand, von denen ich weiss, dass sie hundertpro sind und ich sie auch deshalb hüte wie mein Augapfel. Das Ergebnis: Alles in bester Ordnung. Ein, wie auch immer gearteter Fehler konnte somit endgültig ausgeschlossen werden. Auch die davor geschalteten Koppelkondensatoren arbeiteten einwandfrei.

Also einen neuen Satz Röhren organisiert. Diesmal anderer Hersteller. Long short story: Fangen Sie bei „Was zur Hölle…?“ wieder an. Mit einem Unterschied: Diesmal betraf es beide Kanäle. Gibt’s nicht? Gibt’s doch.

Noch einmal Kontrolle. Nix. Na gut, dann kontrollieren wir mal auf Schwingverhalten. Nö, auch nix. Da ist aber etwas, was nicht sein darf. Ein Verdacht keimte auf.

Des Rätsels mögliche Lösung

Selbst unerklärliche Phänomene lassen sich irgendwie erklären. Die „Irgendwie-Erklärung“: Der Gitterableitwiderstand, den ich im Zuge der Revision, eingelötet und wertemäßig „korrigiert“ hatte (der ursprüngliche Wert war zu hoch), war schlicht und einfach zu niedrig für diese neuen Röhren.

Denn die wollten tatsächlich einen Gitterableitwiderstand sehen, der sich an die Maximalvorgabe des Datenblattes orientierte.

(Lange Kunstpause)

Die übliche Empfehlung, bei neueren Leistungsröhren den maximalen Gitterableitwiderstand vorsichtshalber um ca. 20% zu verringern (und dann ggf. auf den nächsten Normwert zu runden), gilt wohl nicht mehr. Mache ich übrigens schon jahrelang so und bisher immer ohne Probleme.

Nochmals: Im Datenblatt steht, dass der Widerstand einen Maximalwert nicht überschreiten sollte. Von einem Minimalwert steht da nix. Da kann der Wert des Gitterableitwiderstandes beispielsweise ein Hundertstel vom Maximalwert betragen – die Röhre an sich hat immer noch zu funktionieren.

Was mich betrifft, ich gewöhne mir es zukünftig an, ob eine Röhre auch noch bei 50% vom Maximalwertes der Datenblattangabe funktioniert. Denn das hat sie nämlich zu tun. Ohne Wenn und Aber.

Was das Ganze jetzt so pikant macht, ist die Tatsache, dass die Röhren von völlig unterschiedlichen Herstellern stammten und im Grossen und Ganzen einen doch guten Ruf geniessen. Aus diesem Grund wurde weder Hersteller noch Röhrentype genannt.

frihu

…hört gerne Musik. Über Röhrenverstärker. Musikrichtung egal. Ausser Jazz, Hip-Hop, House, Metal, Trash, Schlager, Volksmusik, Gangsta-Rap (noch schlimmer, wenn in Deutsch gebrüllt). Da krieg' ich ein Hörnchen.Autor der Bücher: Hören mit Röhren, Röhrenschaltungen und High-End Röhrenschaltungen. Artikel in hifi-tunes (Röhrenbuch 2): Bauteileauswahl für Röhrenverstärker und EL509 Single-Ended Röhrenverstärker im Selbstbau

Kommentare sind geschlossen.