ST-85 von VTL

Kennen Sie das?

Man erkennt „Bockmist», stutzt etwas und macht weiter, als ob nichts gewesen sei. Kennen Sie sicher. Irgendetwas sagt uns, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. So erging es mir auch.

Das hier kommt schliesslich aus dem Hause Manley und nicht vom „China-Mann», dem wir das ja eher zugetraut hätten. Sie haben es bestimmt schon erkannt: Ich meine den Gleichrichter (einzelne Dioden) für die Betriebsspannung am Netztrafo. In allen Schaltplänen ist ein Vierwege-Gleichrichter (gemeinhin auch als Graetz-Brücke bekannt) eingezeichnet.

Das kann man auch aus vier einzelnen Dioden zusammenlöten. Nein, eine Vierwege-Gleichrichtung ist das nicht. Auch keine (in der Röhrentechnik durchaus übliche) Zweiwege-Gleichrichtung. Zwischen 2 und 4 liegt nun welche Zahl?

Richtig, es ist eine „Dreiwege-Gleichrichtung». Wie? Gibt’s nicht? Gibt’s wohl. Also bitte, hier der Beweis. Sogar Kanalgetrennt.

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(Hier denken Sie sich jetzt bitte eine betroffene Schweigeminute)
Kann es sein, dass man bei „meinen» ST-85 improvisierte und man den Netztrafo aus dem ST-75 Modell genommen hatte…?

Reparatur

Die Reparatur erfolgt nach dem Motto: Alles, was auf kurz oder lang Ärger machen wird, durch Gleichwertiges ersetzen. Also, Erhalt des ursprünglichen. Heisst besonders bei den Widerständen: Metallschicht. Auch, wenn es nicht behagt.

Nur der Kathodenwiderstand der EL34 wird durch Draht ersetzt. Der Schirmgitterwiderstand wird ebenfalls geändert. Und zwar auf den Wert, den man in neueren ST-85 Modellen eingebaut hat. Die sind übrigens leistungsmäßig mit 60W (bei knapp 0,7V Input) abgespeckt – die EL34 arbeiten übrigens im Pentodenmodus!

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Und noch etwas wird ersetzt. Beide, kanalgetrennten, Sicherungen nämlich, die in der Hochspannungsleitung zu den Endröhren lagen. Da ist also schon einmal gewaltig etwas aus dem Ruder gelaufen.

Staunend

darf man die Höhe der Betriebsspannung zur Kenntnis nehmen: schnuckelige 620 Volt. Das wird auch nicht bedeutend weniger, wenn die Endröhren auf 25mA Ruhestrom abgeglichen werden. Das Manual empfiehlt zwar 27mA bis maximal 30mA – das wollen wir den heutigen EL34 aber besser nicht zumuten.

Als willige Opfer habe ich gebrauchte China EL34-B zwangsverpflichtet. Wenn die wegdampfen, tut das nicht weh. Aber das geht erstaunlicherweise. Fragt sich nur, wie lange…

Keine Frage, für das Schirmgitter ist das aus Sicht der Spannung heftig. Wir erinnern uns aber, dass sich der Ruhestrom (an der Kathode) aus der Summe von Anodenstrom und Schirmgitterstrom zusammensetzt. Strom ist nicht Spannung. Die Belastbarkeit des Schirmgitters wird mit maximal 8 Watt angegeben. Solange man diese 8W nicht überschreitet, ist eigentlich ja auch alles in Ordnung.

Die Spannung muss nur sehr stabil anliegen… Ultralinear verbietet sich also.

Und dann bleibt es auch in Ordnung – solange man die maximale Leistung nicht abruft. Was mit 8Ω-Lautsprecher an 4Ω-Übertrageranschluss nur schwer möglich ist.

Ruhestromabgleich

So löblich sich das Manual dem Ruhestromabgleich widmet und einem im vorbeireiten das ohmsche Gesetz erklärt, VTL hat etwas vergessen: Am Eingang sollte wirklich absolute Ruhe herrschen. Am besten mit Kurzschluss-Cinchstecker.

Röhren

Luke Manley antwortete mal auf die Frage, woher man die zweifelsohne nötigen selektierten Endröhren herbekommt, mit: „Von VTL, natürlich». VTL fertigt aber genausowenig wie Marshall, Röhren. Sie fischen lediglich aus dem Pool das Beste vom Besten heraus.

Für den ST-50 kamen die Röhren von Sovtek. Die alten RCA 7027A tun es auch (Anschlüsse an der Röhrenfassung umlöten, sonst knallt’s). Für den ST-75 sollten die KT90 von Ei eingesetzt werden. Die EL34 des ST-85 waren Winged-C oder alte Svetlanas (goldfarbener Aufdruck). JJ-Röhren, Electro Harmonix oder RFT-Gläser sind mit Vorsicht einzusetzen. Die JJ-6CA7 sollen, Berichten zufolge, funktionieren.

Kleiner Tipp zur Endröhren-Auswahl: Schauen Sie mal nach, was die Musiker in ihren Amps einsetzen. Bei den alten Röhrenverstärkern von Marshall, Fender, Orange oder gar Ampeg ging es sehr oft genauso robust zur Sache. Die Idee, derartige Röhren einzusetzen, ist daher nicht so abwegig. Generell sollte man den Röhren-Dealer sagen, wofür die Röhren benötigt werden. Wer VTL kennt, weiss, was er nicht verkaufen sollte.

Und – so nebenbei: Mein ST-85 ist spannungsmäßig mit dem ST-75 (mit KT90) identisch. Wenn man alte Ei KT90 bekommen kann, dann ist ein Wechsel eine Sache, über die man nachdenken sollte. Die alten KT88 (GEC, Tesla) gehen hier aber auch. Achtung: Nicht einfach so diese Röhren einflanschen – da müssen Voraussetzungen geschaffen werden…

Die von VTL zugesicherte Haltbarkeit der Endröhren von rund 3000 Betriebsstunden bezieht sich auf Röhren, die von VTL kamen. Sobald die Sicherung zu den Endröhren durchbrennt, sollte man nicht nur die Sicherungen auswechseln, sondern auch einen Röhrenwechsel in Betracht ziehen.

Das war’s.

Ergebnis?

Lutsch mich rund und nenn‘ mich Bärbel: Das funktioniert.
Verdammt nocheins, das funktioniert wirklich.

frihu

…hört gerne Musik. Über Röhrenverstärker. Musikrichtung egal. Ausser Jazz, Hip-Hop, House, Metal, Trash, Schlager, Volksmusik, Gangsta-Rap (noch schlimmer, wenn in Deutsch gebrüllt). Da krieg' ich ein Hörnchen. Autor der Bücher: Hören mit Röhren, Röhrenschaltungen und High-End Röhrenschaltungen. Artikel in hifi-tunes (Röhrenbuch 2): Bauteileauswahl für Röhrenverstärker und EL509 Single-Ended Röhrenverstärker im Selbstbau

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