Recherche first!

Was’n das?

Der nächste Röhren-Vollverstärker stammte aus einer Erbmasse und sah wie „geleckt» aus. Die Besonderheit war, dass dieser Verstärker einen Phono-Vorverstärker aufwies und deshalb zum Objekt der Begierde wurde.

Die Enttäuschung folgte schnell: „Phono klingt seltsam». Ich darf versichern, dass nicht nur Phono „seltsam» geklungen haben musste, wenn man dem Oszilloskop trauen durfte…

Was auffiel, war ein leichtes Brummen des Netztrafos. Ein Übertragerpott wurde zudem etwas warm. Hm…

Nicht nur, dass ich den Verstärker nicht kannte, auch aus anderen Gründen zuerst Recherche.

Das Ergebnis dieser wochenlangen (!) Recherche: Nichts. Null-Komma-Nichts. Angeblich war der Verstärker „Made in Australia» – woran ich aber zweifelte. Zitat eines Insiders: „Quatsch, das Zeug kommt aus China. Vorsicht!»

In den USA wurde exakt das gleiche Verstärkermodell unter einem anderen, leicht abgewandelten, Mineral-Namen gedealt. Hat lange gedauert, bis ich dahinter gekommen bin… Stimmen die Recherchen, passen die Erlebnisse aus Amiland ganz gut ins hiesige Bild. In Europa tauchte dieses Verstärkermodell nur kurz in einem niederländischem Forum auf – mit genau der gleichen Fehlerbeschreibung.

Die Gründe für das „seltsame» Klangbild der Phonostufe mit „Firmeneigener» ECC85 (die keine ECC85 war): Seit wann legt man einen Kondensator (!) vom Eingang (Cinch) im Signalweg zur ersten Verstärkerstufe? Der Abschlusswiderstand – gleichzeitig auch Gitterableitwiderstand – für das Tonabnehmersystem beträgt oftmals 47kΩ. Ich habe hier den dreifachen Wert ermittelt.

Es scheint seltsame Plattenspieler bzw. Tonabnehmer in China – Sorry – Australien zu geben…

Das aktive Entzerrernetzwerk war ebenfalls dahingehend „seltsam», weil sich hier Widerstände eines betimmten Wertes wiederfanden, die sich – geradezu inflationär – in der gesamten Schaltung finden liess. Das zog andere „krumme» Bauteile nach sich. Das hätte man alles einfacher (und billiger) haben können… Zumindest eingangsseitig war die Phono-Korrektur… nunja… relativ einfach.

Relativ ist eben relativ

Nur um allein an der Platine arbeiten zu können, war zunächst ein Zeitaufwand von über vier Stunden für Demontage nötig. Dazu musste auch ein siebener Maulschlüssel organisiert werden. Wer, zum Henker, benötigt schon einen Siebener? Dass man auch noch brutale Gewalt anweden musste, um die aufgeklebte massive Frontplatte wegzusprengen, passte gut ins Bild.

Die Frage, wie ich das wieder zusammengebaut bekomme, sollte sich etwas später als rein rhetorisch erweisen…

Das Platinenlayout sah gut aus. Keine Frage.

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Derjenige, der das geroutet hatte, kam wohl aus der EDV. Gut 85% der Kupferfläche war nämlich Schaltungsmasse. Aufgrund des Platinenlayouts waren die „passiven Bauteile» auch nicht unbedingt da, wo man sie logischerweise vermutet… Die Durchstecklöcher für die Bauteile waren zudem gerade eben so passend. Ein typisch 1990’er EDV-Layout.

Die gesamte doppelseitig kaschierte Platine war zudem mit einem isolierendem Zeugs beschichtet. Mit einem 30W-Lötkolben war nichts zu Wollen. Und auch der 100W-Bräter, für schwierige Fälle, geriet an seine Grenzen. Und das will was heissen…

Es kamen noch weitere Ungereimtheiten hinzu, die ebenfalls „relativ» einfach korrigiert werden konnten. Was aber nicht korrigiert werden konnte, war die eigentliche Röhrenschaltung.

Mit normalen Mitteln war auch nicht der Ruhestrom einzustellen. Geschweige denn, dass das zu kontrollieren war. Eine „Pi mal Daumen»-Schätzung ist genauer. Selbst ich stand vor der Kiste und wusste nicht wohin mit den Messstrippen…

Da wähnte ich mich irgendwann ans Ziel, wuchtete den Verstärker auf den Messplatz, schloss die Messstrippen und die Lastwiderstände an, schaltete ein und dann passierte es: Die Heizfäden der Endröhren glühten noch noch nicht einmal richtig, als plötzlich ein kleines Rauchwölkchen aus einem Übertrager empor stieg und sich sanft verflüchtete. Danach war kein Strom mehr da – die flinke 5A-Sicherung im Primärstromkreis (also Netzanschluss) sicherte tatsächlich.

Premiere! WTF?

Es stellte sich heraus, dass der beachtliche Übertragertopf nur bis zur Hälfte gefüllt war – und zwar mit gewichtsrelevanter Vergussmasse. Der eigentliche Übertrager sah nach „Mini» aus, also eher so etwas, was man in alten Röhrenradios findet. Naja, ein bisschen grösser war er schon… Daher also das Oszilloskopbild. Trotzdem eine Quizfrage: Wie kann ein gepotteter Übertrager (egal ob Mini oder Maxi) Rauchsignale geben?

Es stellte sich heraus, dass der Übertrager über eine Schirmwicklung verfügte, die gegen Masse verläuft. Irgendwie war da nun ein Kurzschluss entstanden. Nur bei einem Übertrager! Der andere Übertrager war in Ordnung und testweise liess sich der Verstärker damit auch in Betrieb nehmen. Merkwürdig? Diesmal brummte der Netztrafo aber nicht!

Nun kann man spekulieren. Es ist aber wahrscheinlich, dass der Übertrager schon einen „Hau» hatte, als der Verstärker den Besitzer wechselte. Wie auch immer verursacht. Der Kurzschluss wäre also, auf kurz oder lang, sowieso passiert. Und ich kann mir jetzt gut vorstellen, warum dieser Verstärker wie „Neu» aussah. Der hat wahrscheinlich nie richtig funktioniert, auch nicht mit anderen Röhren – womit diese Kiste ganz regulär angeboten wurde.

Das fachmännische Entpotten und Einbau eines neuen Übertrager (bzw. zwei) wäre in der Summe viel teuerer gekommen, als der Kauf eines zufällig bei mir annoncierten gebrauchten Yaqin-Verstärkers. Den hatte ich schon einmal in der „Mache». Besser einen Yaqin als so ein „krummes» Ding. Ende gut, alles gut.

Halt! So ganz ist die Geschichte um diesen Verstärker noch nicht zu Ende.

Dieses Verstärkermodell kann man als Vorfahr von noch existierenden Verstärkern betrachten. Nur werden diese Verstärker ohne Phono und mit Beseitigung der gröbsten „Ungereimtheiten» angeboten. Auch die Röhrenbestückung ist eine andere. Zudem verfügen diese Verstärker über einen sehr hohen WAF-Faktor. Heisst: Sie sind schnuckelig klein. Für zum in die Ecke zu stellen. Nur eins ist geblieben: die melodische Prosadichtung ob der „sagenhaften» Schaltungstechnik.

Noch einmal:

Recherche, Recherche, Recherche!
Was ich kann, können Sie auch. Man muss natürlich über „Sitzfleisch» verfügen… Gehen Sie strukturiert an die „Arbeit» und setzen Sie sich ein Zeitlimit!

Tipps

1. Lassen Sie sich beim Kauf eines Gebrauchtverstärkers nicht hetzen. Keine Bedenkzeit? Forget it.
2. Ist ein Verstärker in Deutschland (Europa) nahezu unbekannt: Finger weg!
3. Lassen Sie sich weder von Namen noch von der Optik blenden.
4. Treffen Sie bei Recherche nur auf verbastelte oder „getunte» Verstärker: Finger weg.
5. „Trenne mich schweren Herzens…» Verkaufsangebot heisst: Bloss weg mit dem Teil.
6. Kennt ein Vertrieb oder ein Hersteller den eigenen Verstärker nicht mehr, sollte man skeptisch werden.
7. Generell: Je mehr Prosadichtung, desto mehr Bullshit.
8. 10 Jahre alte Verstärker die wie Neu aussehen, sind zu 95% Blender. Sie würden ja auch keinen Gebrauchtwagen kaufen, der sich mit einem „geleckten» Motorraum präsentiert.
9. Verstärker mit viel Patina hingegen sind ebenfalls zu 95% astreine Werkstattkandidaten.
10. „Historische» Verstärker sind der Zeit geschuldet und nicht per se gut. Die Chancen stehen fifty-fifty.

Und wenn Sie „nur» einen Röhrenverstärker kaufen möchten, vom „Tuten und Blasen» aber keine Ahnung haben (nicht negativ gemeint), dann lesen Sie bitte diesen Leitfaden.

frihu

…hört gerne Musik. Über Röhrenverstärker. Musikrichtung egal. Ausser Jazz, Hip-Hop, House, Metal, Trash, Schlager, Volksmusik, Gangsta-Rap (noch schlimmer, wenn in Deutsch gebrüllt). Da krieg' ich ein Hörnchen. Autor der Bücher: Hören mit Röhren, Röhrenschaltungen und High-End Röhrenschaltungen. Artikel in hifi-tunes (Röhrenbuch 2): Bauteileauswahl für Röhrenverstärker und EL509 Single-Ended Röhrenverstärker im Selbstbau

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